Kambodscha
Als wir vom Grenzübergang in eine flache Ebene hinabfahren und unten schemenhaft vereinzelt Palmen aus dem Dunst über den Reisfeldern hervorragen, überkommen Claudia und mich die gleichen Gedanken. Wir denken an die Zeit, die von April 1975 bis Januar 1979 das Land unter der Herrschaft der Roten Khmer in den Abgrund stürzte und ein Drittel der Bevölkerung auf grausame Weise das Leben kostete. Aber dazu später mehr.
Nur 10 Kilometer weiter erreichen wir in Koh Kong unseren ersten Übernachtungsort in Kambodscha. Koh Kong ist ein einfaches Küstenstädtchen, die Strassen ganz nach dem Vorbild der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, in strengem Schachbrettmuster eingeteilt. Den ganzen Nachmittag schlendern wir durch die geschäftigen Strassen und versuchen langsam Menschen und Mentalität näher zu kommen. Die KTM ruht derweil gut behütet im Flur unseres einfachen Hotels.
Die nächste Etappe nach Kampot führt zunächst durch den Koh Kong Nationalpark. Hier verläuft eine gute Asphaltstrasse 140 Kilometer mit schönen langgezogenen Kurven in sanftem auf und ab durch einen fast undurchdringbaren Dschungel. Immer wieder weisen Schilder auf einen Wildwechsel der besonderen Art hin, sie warnen vor Elefanten. Uns bleibt genug Zeit auf der einen oder anderen feuerroten Piste ein wenig tiefer in diese wilde Landschaft einzutauchen.
Da sich das Tankstellennetz noch im Aufbau befindet, bleibt dem Reisenden oftmals nur eine Alternative, Benzin an den Dorftankstellen nachzufüllen. Der Treibstoff mit unbekannter Oktanzahl wird hier aus verranzten Cola- oder Wasserflaschen in die Tanks gegossen. Ehrlich gesagt, traue ich dem Spass nicht so recht, denn das Zeug riecht und sieht aus wie alter Weisswein und fühlt sich auch genauso an. Aber die KTM beklagt sich nicht und schnurrt fröhlich bis Kampot weiter.
In Kampot findet man noch unzählige alte französische Kolonialbauten, die von der einstigen Handelsmacht der Franzosen hier am Golf von Siam zeugen. Ein wirklich nettes Städtchen, in dem wir uns gerne länger aufgehalten hätten.
Die Strasse in die Hauptstadt Phnom Penh ist staubig, breit, wenig befahren und führt fast schnurstracks nach Norden durch Reisfelder und wunderschöne Palmenhaine.
In Phnom Penh, in einer kleinen Seitengasse, direkt am Mekong, finden wir auf Empfehlung eines Bekannten ein kleines sauberes Guesthouse. Der Boss, ein Australier, selbst Biker, sichert uns zu, dass die KTM auch nachts auf der Strasse sicher abgestellt ist. Daran zweifel ich zunächst ernsthaft, denn die ganze Strasse besteht aus schwummrigen dubiosen Bars und auf der Strasse tummeln sich rechts leicht bekleidete Mädchen. Der Boss hat in der ganzen Strasse bekanntgegeben, dass die KTM von niemandem anzurühren ist. Dass dies auch funktioniert spüre ich am nächsten Morgen am eigenen Leib. Nichtsahnend komme ich aus der Tür und will den Koffer aufschliessen. Unvermittelt stürmen zwei Kambodschaner aus einer Bar auf der anderen Seite auf mich zu und machen erst entschuldigend Halt, als sie den Schlüssel in meiner Hand sehen.
Wir nehmen uns den ganzen Tag Zeit, um mehr von der traurigen jüngeren Geschichte Kambodschas zu erfahren. Als 1975 die Roten Khmer die Macht übernahmen, wurden sie von Vielen freundlich in der Hauptstadt begrüsst. Dies änderte sich jedoch schnell, als die Stadt binnen weniger Tage geräumt wurde. Das politische Ziel der Roten Khmer war, aus dem Land einen Bauernstaat zu machen. Die Währung wurde abgeschafft, Intellektuelle, Ärzte, Lehrer, ja selbst Brillenträger exekutiert. Das Land verlor in kürzester Zeit seine Elite. Das “politische Gefängnis” Toul Sleng (S21) war eine Folteranstalt in der verwaisten Stadt, aus dem die Insassen nach Choeung Ek, Killing Fields gebracht wurden, wo sie bestialisch hingerichtet wurden. Beide Orte sind heute Gedenkstätten, die wir aufsuchen.
Bedrückt, fast mit wirren Gedanken, kommen wir in die Stadt zurück. Uns wird bewusst, wieso wir bisher so wenig älteren Mensche begegnet sind. So wie hier in der Hauptstadt geschah in dieser Zeit im ganzen Land. Phnom Penh hat sich mittlerweile zu einer pulsierenden Stadt die einen recht gemütlichen Charakter mit netten Cafes und Restaurants entlang der Menkongpromenade und ruhigen und gepflegten Vierteln, durchmischt von bunten traditionellen Nachtmärkten entwickelt. Die freundliche und zurückhaltende Mentalität der Menschen spiegelt sich schon im Strassenverkehr wieder, wo Alles fliessend, mit grosser Rücksichtnahme vorangeht. Wenn ich in Indien durch den Verkehr graue Haare bekommen habe, so werden sie hier wieder dunkel.
Hier in Phnom Penh treffen wir Reini, der als Tourguide für den deutschen
Motorradreiseveranstalter Overcross arbeitet und seit sieben Jahren hier lebt.
Reini kennt Kambodscha wie seine Westentasche und versorgt uns mit Unmengen
Offroadtipps. Da Reini zunächst davon ausgegangen ist, dass wir schon lange in
Asien unterwegs sind, lädt er uns zu einem ganz besonderem Abendessen ein. In
einem kleinen, von einem Deutschen geführten Restaurant gibt es heute riesige
Rinderrouladen mit guter Sosse, Salzkartoffeln und Rotkraut – fast wie bei
Muttern.
Wir verlassen die Hauptstadt Richtung Nordwesten nach Battambang, der
zweitgrössten Stadt des Landes. Die Landschaft wird topfeben, jedoch nicht
langweilig. Im ständigen Wechsel geht es den riesigen Reisfeldern aus denen
immer wieder die typische Kopfbedeckung, die Kramas, karierte Tücher,
auftauchen entlang oder wir gleiten durch
schattige Palmen- und Laubbaumwälder,
in denen sich viele kleine Dörfchen
versteckt haben.
Die Menschen beobachten uns meist aus der Ferne mit etwas Scheu und es
fällt uns schwer, ganz anders als auf dem indischen Subkontinent, Portraits
von ihnen zu schiessen.
Battambang kann seine französische koloniale Vergangenheit nicht ganz
verleugnen. An der Uferpromenade des Flusses reiht sich ein altehrwürdiges
Handels- oder Geschäftshaus an das andere. Doch ist meist erst ab dem ersten
Stockwerk die alte Fassade erhalten geblieben. Unten haben sich Handwerker,
Mode- und sonstige Geschäfte niedergelassen und den Stil verändert.
Die 180 Kilometer nach Siem Reap haben wir auf kerzengerader Strasse
schnell hinter uns gebracht. Hier befindet sich das kulturell historische
Zentrum des Landes mit den Tempelanlagen von Angkor, den grössten den Welt.
Über 400 Jahre waren sie fast in Vergessenheit geraten, überwuchert von
dichtem Dschungel, mit Lianen und riesigen Wurzeln, bis sie im 19. Jahrhundert
von einem Forscher wiederentdeckt wurden. Zunächst nutzen wir jedoch die Zeit,
um die Urwaldpisten um Angkor zu erkunden und weit abseits der Strasse kleine
Dörfer zu besuchen.
Wir haben zwei Tage eingeplant, um in Angkor ausgiebig die Tempel zu
erkunden, durch dunkle Gänge zu kriechen, riesige steinerne Köpfe im Dickicht
zu entdecken (Indiana Jones lässt grüssen) und ausgiebig zu fotografieren. So
trennen wir uns schon im ersten, dem für uns schönsten Bauwerk, dem Bayon.
Als ich aus einem dunklen Gang ins Helle trete, knicke ich mit dem Fuss um und
krümme mich vor Schmerzen auf dem Boden. Ein japanischer Tourist, der nach einiger
Zeit vorbeikommt, schaut mich nur komisch an und lässt mich liegen. Als ich
humpelnt Claudia finde, ist ihre Diagnoseklar. Eine Laesion des Ligamentum
fibulotalare anterius. Besser hätte ich es auch nicht sagen können und
könnte auch als Teilabriss eines Bandes des oberen Sprunggelenkes bezeichnet
werden. Humpelnd und mit weniger Fotos wie geplant kommen wir nach Ta Prohm,
der verwunschesten Anlage des Komplexes, der so belassen wurde, wie ihn damals
über Jahrhunderte der Urwald überwucherte. Die riesigen Wurzeln der Bäume
scheinen die trotzigen Steinmauern, Türme und Götterfiguren fast zu
zerquetschen und giftgrüne Moose bedecken die heruntergebrochenen Steinquader.
Man fühlt sich hier wie ein Entdecker einer längst vergangenen Epoche.
Tags drauf wir mein Fuss fest von einem Endurostiefel gehalten, wieder sind
wir auf den Pisten um Angko unterwegs und mogeln uns am Nachmittag durch das
gut 30 Meter hohe Nordtor, das von überdimensionalen Gesichtern bewacht
wird, in das Innerste der Tempelanlage. Kreuz und Quer durchstreifen wir mit
der KTM die alten Gemäuer von Angkor ohne von den sonst recht strengen
Aufpassern behelligt zu werden. Es ist ein Erlebnis der ganz besonderen Art,
sich hier in dieser Kulisse ganz frei mit dem eigenen Motorrad bewegen zu können.
Als wir Angkor Richtung Süden den Rücken kehren, wissen wir, dass wir nicht das letzte Mal hier gewesen sind. Unser Ziel ist Kampong Cham am Mekong, dem grossen Strom Südostasiens, der sich von China über Laos, Kambodscha bis Vietnam erstreckt, und dem wir in den Norden von Laos in das goldene Dreieck folgen werden. Die grosse Strasse, teils durch schattige Alleen, lässt uns gut vorankommen. In dem trostlosen staubigen Ort Skun, in dem es eigentlich nichts Weiteres zu sehen gibt als eine Weggabelung in drei Richtungen, spielt sich etwas ab, was Menschen mit einer Arachnophobie einen ganz persönlichen Albtraum erleben lässt. Hier werden die über handtellergrossen heimischen Taranteln in siedendem Öl cross frittiert zu einer leckeren Zwischenmahlzeit verarbeitet. Fliegende Händlerinnen bieten sie zu hunderten auf runden Tabletts den vorbeifahrenden Reisenden an. Doch nicht nur das, jede von ihnen hält für die Kunden noch etliche lebende Exemplare bereit.
Direkt vor unserem Hotel in Kampong Cham fliesst der riesige Mekong träge nach Süden. Ihm folgen wir zunächst am westlichen Ufer über eine staubige, aber gut fahrbare Piste nordwärts. Hier in den winzigen Fischerdörfern scheint sich das wahre Leben des Landes abzuspielen. Die Häuser in der dichten Ufervegetation sind auf meterhohen Stelzen gebaut, um sie vor dem alljährlichen Monsunhochwasser zu schützen. Uns scheint es wie ein Idyll, doch wir sind uns darüber bewusst, dass die Menschen hier nur spärlich durch Landwirtschaft auf den kleinen Reis- und Getreidefeldern und mit Fischfang über die Runden kommen.
Nachdem wir mit einer kleinen Fähre den Mekong überquert haben, liegen weitere 50 Pistenkilometer direkt am Fluss vor uns, perfekte Bedingungen, die die KTM mit über 80 Stundenkilometer über den festen roten Untergrund preschen und hinter uns den Staub meterhoch in den grünen Dschungel steigen lässt. Im Kratie ist es Zeit der KTM etwas Gutes zu tun und Kette und andere bewegliche Teile vom roten Staub der vergangenen Tage zu befreien. Nach einer Weile steht sie da, wie frisch aus dem Laden. Von hier aus sind es noch etwa 200 Kilometer bis zur laotischen Grenze. Zunächst sind wieder einmal Pisten direkt am Mekong an der Reihe, bis wir auf die Hauptverbindungsstrasse nach Laos treffen.
Plötzlich tauchen am Strassenrand warnende rote Schilder auf, die vor noch bestehenden Minenfeldern aus der Zeit der roten Khmer warnen. Minen der Khmer oder Blindgänger massive Streubombenangriffen der Amerikaner während des Vietnamkrieges, keiner weiss es so genau. Aber sie sind noch allgegenwärtig. Wir sind hier in Kambodscha vielen Menschen begegnet, denen Arme oder Beine fehlen, die als Kind unbedacht spielend auf eine Mine traten und nun als “Krüppel” weiterleben müssen. Links und rechts der Strasse finden wir oft nur verfallene, verlassene Holzhäuser vor, ob es an der Landflucht oder den Minen liegt, wissen wir nicht. Aber wer möchte schon sein Kind in einem Minenfeld grossziehen.
Die Landschaft hat sich sowieso schon lange verändert. Schütterer fast verdorrter Laubbaumbestand prägt nun das Bild und die Sonne brennt unbarmherzig. Hier in der brütend heissen Ebene leben kaum noch Menschen, Wenn dann haben sie sich direkt an der Strasse in primitive Hütten niedergelassen. An der Grenze mitten im Nirgendwo kriechen die kambodschanischen Zöllner gelangweilt im Unterhemd und Badelatschen aus ihren Hängematten, um der KTM und uns den Weg nach Laos freizugeben.