Nord Indien

 

Es geht wieder in den Himalaya weit hoch in den kleinen Zipfel Indiens, der zwischen Nepal, China und Buthan eingezwängt ist. Es geht nach Sikkim, dem einstigen alten Königreich, das abgeschlossen in einer spektakulären Gebirgslandschaft liegt. China hat bis heute nicht den Anspruch Indiens auf Sikkim anerkannt und Delhi ist entsprechend nervös, deshalb geht auch hier ohne Sondergenehmigung nichts. Der Region sieht man ihren nepalesisch-tibetischen Ursprung an und überall sind buddhistische Klöster vorzufinden.

Novizen

Die Strassen zur Bundeshauptstadt Gangtok windet sich in perfekt geschwungenen Kurven im Tal an einem breiten Flussbett entlang bis sie dann nicht enden wollend steil in scharfen Kurven in den Himmel zu führen scheint. Der Wettergott meint es nicht gut mit uns. Dunkle Wolken und Dunst verwehren uns die Sicht auf das hier so herrliche Hochgebirgspanorama, das fast von überall sichtbar vom Kanchenjunga mit 8598 m der dritt höchste Berg der Erde dominiert wird.

Heute darf die KTM ruhen, wir lassen uns mit einem Taxi zu verschiedenen Aussichtspunkten fahren und sehen, dass wir nichts sehen. Doch das Kloster Rumtek entschädigt uns für diesen Tag. In der grossen Halle mit bunten Wand- und Deckengemälden im düsteren Licht zelebrieren die Mönche ihr Abendgebet und das Nachtessen. Fotografieren streng verboten, zuschauen erwünscht. Wir verziehen uns in eine Ecke des Raumes und sind nach kurzer Zeit gefangen von dem dumpfen, rhythmischen Trommeln, dem hupenden Dröhnen der langen buddhistischen Trompeten und dem monotonen mal leise, mal laut herausgestossenen Gebeten der rot gekleideten Mönche und Novizen. Das letzte Sonnenlicht bricht schräg mit scharfen Strahlen durch die winzigen Fenster in den Raum und lässt die in der Luft stehenden Staubkörner sichtbar werden, die funkelnd wie Silberstreifen auf den Boden treffen. Gänsehautstimmung.

Nur 105 km liegen bis Darjeeling vor uns. Es ist die Queen und Mutter aller Hillstations. 2007 kamen wir hier in die stockdunkle Nacht, heute sehen wir was wir damals fast blind durchfahren mussten. Unglaublich steil und eng führt hier die Strasse einen Bergrücken hinauf. Wenn wir hier aus irgendeinem Grund stehen bleiben müssen, werden wir es nicht bewerkstelligen wieder anzufahren, ohne dass die Kupplung durchbrennt. Alles, aber wirklich Alles was wir bisher in den Alpen oder Asien an steilen Passagen gefahren sind, stellt dies in den Schatten.

Kurz vor Darjeeling fallen dann weit am Hang geschwungene Teefelder fast haltlos in die Tiefe. Abermals geniessen wir die aussergewöhnliche Atmosphäre Darjeelings mit vermoosten alten Kolonialbauten, dem Toytrain, der Schmalspurbahn die hier herauf führt, und dem bunten indisch-tibetischen Markttreiben. Auch für uns ist Darjeeling ”The Queen of Hillstations”. Auch von Darjeeling bleiben uns die Blicke auf die Berge versagt, Nebel und eine dichte Wolkendecke haben sie vor uns versteckt. Kein Wetterglück im Osten des Himalaya.

Toytrain

Steil geht es hinab in die Ebene von West Bengalen. Auf 80 km windet sich die schmale Strasse in Kurven und Serpentinen nach unten, immer begleitet von der 60 cm breiten Spur des Toytrain, der Dampflok die seit den 1920er Jahren schnaufend immer noch ihre Dienste verrichtet. Die Landschaft wird wieder topfeben und die Teeplantagen weichen Reis- und Ananasfelder.

Wir stehen vor den Toren des Bundesstaates Bihar. Alljährlich wird die Region von den Monsunfluten überschwemmt, es ist das ärmste und auch das gesetzloseste Gebiet Indiens. Selbst Inder, die nicht aus Bihar stammen, so erzählten sie uns, fühlen sich hier nicht sicher, da Banditentum und politische Konflikte die Strassen und Städte unsicher machen. Dass wir als Ausländer hier nicht gerne gesehen werden, spürten wir sofort. Auch in dem Hotel in Purnia, in dem wir übernachten, scheint man das Lächeln an eine unbekannte Macht verkauft zu haben. Wir müssen das Essen auf dem Zimmer zu uns nehmen und man rät uns nach Einbruch der Dunkelheit auf keinen Fall die Strassen zu betreten.

Bihar ist jedoch auch untrennbar mit dem Leben Buddhas verbunden, der hier erleuchtet wurde und lange Zeit seines Lebens hier verbrachte. Schon vor 2500 Jahren prophezeite er Bihar “Fehden, Feuer und Flut”. Eine Weissagung, die leider eingetroffen ist. Wir kennen die “Gefahren” und Unwägbarkeiten bereits aus dem Jahr 2007 und gehen daher entsprechen vorsichtig und mit Bedacht ans Werk. Wir halten bei keiner Baustelle oder einem Unfall an, da diese inszeniert sein könnten. Wir haben jedoch keine andere Wahl, hier auf dem Weg von Darjeeling nach Bodh Gaya einmal übernachten zu müssen. Nachdem wir den hier riesigbreiten Ganges überquert haben, zeigt sich Zentral- und Südbihar dann aber von einer besseren Seite. Nach ein paar Stunden erkennen wir, dass hier ein grosser Teil des indischen Herzens schlägt. Es ist so wie man sich das Land vorstellt. Reis- und Getreidefelder, rot-braun verputze Lehmhäuser, eine scheinbar ursprüngliche ländliche Lebensweise, in der Viehzucht und Ackerbau dominieren.

Am Horizont ragen Hügelketten empor und pastellfarbenes Sonnenlicht sorgt für die nötige Stimmung. Die Armut der Bauern hier ist jedoch augenscheinlich. Mit blosen Händen wird der Viehdung von der Strasse aufgelesen, um ihn getrocknet als Brennstoff zu verwenden.

Mönche

Im Süden Bihars befindet sich der wohl bedeutenste Ort für die Anhänger des Buddhismus. In dem kleinen Städtchen Bodh Gaya steht inmitten einer beeindruckenden und friedlichen Tempelanlage ein Nachkomme jenes Bodhibaumes unter dem Buddha erleuchtet worden sein soll. Mönche und Gläubige aus aller Welt kommen hierher, um in der stimmungsvollen Atmosphäre ihre Religion zu zelebrieren. Claudia findet gleich mehrere der heiss begehrten Blätter jenes Baumes unter dem eine Weltreligion ihren Anfang fand.

Piste in Jharkhand

Auf dem Weg nach Varanasi machen wir noch einen Abstecher nach Jharkhand. Es ist der 24. und letzte Bundesstaat, den wir auf unserer Reise besuchen. Die verbleibenden vier, dieses riesigen Landes, bleiben uns im politisch unruhigen Nordosten verwährt. Hier im Norden von Jharkhand kann man auf herrlichen Pisten von Dörfchen zu Dörfchen tingeln und erhält interessante Einblicke in ein Gebiet, das andere Reisende links liegen lassen. Wir verursachen überall grosses Staunen und müssen mit Händen und Füssen der aufgeschlossenen Landbevölkerung von der Reise berichten.

Für die letzten 1500 km ist an der KTM dann doch noch ein Service fällig. Ein spürbarer Leistungsverlust deutet auf ein Luftfilterproblem hin. Nachdem wir ihn zweimal auf den letzten 1200 km gereinigt haben, hilft jetzt nichts mehr, der Ersatzfilter muss eingebaut werden. Der alte ist komplett mit Dieselruss und Staub verklebt. Mit Erschrecken stellen wir fest, dass hier in Indien der Luftfilter für Menschen dringend erfunden werden muss, damit die Lungen nicht so aussehen.

Schon 2007 hat uns die Stadt Varanasi total beeindruckt. Am Ganges gelegen ist es der heiligste Ort für Hindus. An den Badeghats am Ufer des Flusses herrscht den ganzen Tag über reges Treiben. Eine exotische Mixtur aus religiösen Verehrungen, Gauklern, heiligen und scheinheiligen Männern, ein Ort, um zum Friseur zu gehen, sich massieren zu lassen und sich oder seine Kleider zu waschen.

Varanasi

Lange schlendern wir am Ufer des Ganges entlang und verlieren uns in der verwinkelten Altstadt. Varanasi wird uns immer begeistern, hier trifft ein schrilles Indien auf höchste Spiritualität, eine Mischung, der man sich kaum entziehen kann.

Unser letzter Fahrtag in Indien steht an und wir blicken zurück auf ein faszinierendes, facettenreiches Land mit vielen Widersprüchen und so manchem Unergründbaren. Ein Land, das von endloser Ruhe bis zum völligen Chaos Alles zu bieten hat. Nochmal erinnern wir uns an die ein oder andere Situation im Strassenverkehr und sind froh, heil durchgekommen zu sein.

Aber es scheint so, als ob Indien uns nicht ganz schadlos gehen lassen möchte und so zeigt sich der Verkehr noch einmal von seiner knallharten Seite. 100 km vor der nepalesischen Grenze schrammt ein Rikschafahrer an unseren rechten Koffer, um das Bild links wieder einheitlich zu machen, hinterlässt 50 km weiter ein Fahrradfahrer Lackspuren am linken Koffer. Ein Busfahrer nimmt uns kurz darauf mit Höchstgeschwindigkeit fast auf die Hörner, das sollte eigentlich genügen. 200 Meter vor dem Grenzposten wiegen wir uns schon in Sicherheit. Doch dann bremst ein LKW vor uns ohne Grund unvermittelt auf 0 ab. Es wäre der erste LKW gewesen bei dem die Bremslichter funktioniert hätten und wir kommen bei unserer Notbremsung auf der mit Sand bedeckten Fahrbahn ins Rutschen. Das Vorderrad bricht aus und ein Sturz ist unvermeidbar. Die KTM liegt auf Thomas rechtem Bein, doch ausser einem leicht verdrehtem Fuss und Oberschenkel, leichten Schürfwunden an Claudias Knie, sowie ein zerbrochenes Blinkerglas und einer Delle im Koffer können wir uns nicht beklagen.

An der Grenze blicken wir noch einmal zurück und atmen tief durch. Indien hat uns bis zur letzten Minute alles gezeigt, was es zu bieten hat.